Von Helga Baumfalk
Sauerteige sind weitaus mehr als nur eine Zutat. „Sie sind ein ganzes System der Biotechnologie“, erklärt Dr. Georg Böcker, Geschäftsführer der Mindener Ernst BÖCKER GmbH & Co. KG, im Gespräch mit brot+backwaren.
b+b: Bei BÖCKER dreht sich seit der Unternehmensgründung 1910 alles um das Thema Sauerteig. Was umfasst diese Expertise heute?
Dr. Böcker: Sauerteig sehen wir als ganzes System der Biotechnologie und arbeiten seit mehr als 20 Jahren daran, es weltweit abzudecken. Wobei es nicht nur um Roggen, sondern in den meisten Regionen der Welt um Weizensauerteige geht. Sauerteig ist ein Prozess, ein umfassendes Denken, insofern ist unsere Expertise, die wir aufgebaut haben, und die von unseren Mitarbeitern wie Dr. Markus Brandt oder Dr. Peter Stolz und auch von mir repräsentiert wird, weit gesteckt.
b+b: Was genau meinen Sie mit „System“?
Dr. Böcker: Sauerteig umfasst viele Aspekte. In den Bäckereien fängt es mit der Anzucht der Kulturen an, wobei die Bäcker bei diesem Schritt etwas machen, was in der Biotechnologie im Grunde unüblich ist. Es wird kein Einzelstamm hochgezogen, sondern eine Mischkultur, die stabil bleiben muss, mit Organismen unterschiedlichster Bedürfnisse. Eigentlich eine technische Unmöglichkeit. Trotzdem soll es funktionieren. Hier kommen wir ins Spiel. Unser „Sauerteig-System“ – unser Konzept – setzt bei den Kulturen an, geht weiter über die Vermehrung und reicht hin bis zur Verarbeitung, d. h. alle Prozesse und Parameter. Es umfasst also den gesamten Prozess der Brotherstellung inklusive Zeiten, Temperaturen und Mischungsverhältnisse. Weil Bäcker keinen Sauerteig, sondern Brot verkaufen, müssen auch wir die ganze Kette betrachten und beratend tätig sein. Wir verstehen uns als Wissenslieferant. Wir machen die Bäcker zu Biotechnologen, ohne dass sie es merken.
„Die Weizenwelt hat die Wirkung von Sauerteig auf Brotqualität und Geschmack entdeckt. Auf den internationalen Märkten ist der Mehrwert, den man mit der Auslobung ‚Sourdough Bread‘ erzielen kann, durchaus verstanden worden.”
Dr. Georg Böcker
b+b: Wie weit kann Ihre Beratungsleistung gehen?
Dr. Böcker: Weil wir unsere Kulturen selber herstellen, können wir genau beraten, welche Sauerteigkulturen für welches Brot oder Gebäck, welche Führung und welche Produktionsanlagen optimal sind. Auch welche Aromen wir erzielen und welche Eigenschaften ausgelobt werden können. Erst danach kommt der Anlagenbauer dazu. Der Verkauf der Starterkulturen macht nur einen kleinen Teil unseres Umsatzes aus. Unsere Expertise besteht aus Starter, Konzept und Information. Dabei bemühen wir uns, die anfragenden Unternehmen mitzunehmen und in der Beratung genau herauszuarbeiten, was sie wirklich wollen. Wir führen schließlich nicht nur eine breite Range an fertigen Sauerteig-Produkten, wir erarbeiten auch individuelle Speziallösungen.
b+b: Mit welchen Fragen kommen die Bäcker auf Sie zu?
Dr. Böcker: Abgesehen von neuen Starterkonzepten, wenden sich die Bäcker oft an uns, um die Ursache von Gebäckfehlern herauszufinden. Dann fährt meistens einer unserer Bäckermeister raus in den Betrieb und findet in der Regel einen Anhaltspunkt, woran es liegt. Oder die Bäckereien schicken uns Brote und Sauerteige zu, die wir dann analysieren. Ein- bis zweimal im Jahr führen wir auch Grundschulungen in Betrieben durch. Bedingt durch Corona haben wir unser Backtechnikum in den vergangenen Jahren um ein System digitaler Vorlesungen per Video ausgebaut. Wer ein solches Paket bucht, backt mit uns parallel live. Danach wird online verglichen und diskutiert. Natürlich ist es nicht dasselbe, als wären die Bäcker im Technikum. Für die Zukunft möchten wir das wieder forcieren.
b+b: Gibt es Probleme, die immer wieder auftauchen?
Dr. Böcker: Neuerdings ist die Vermeidung der Nachtarbeit ein regelmäßiges Thema. Ein Filialbetrieb beispielsweise hat angefragt, wie man mit Langzeitführung und Gärverzögerung ein Konzept entwickeln kann, in dem erst morgens gebacken wird und dann weiter über den Tag verteilt. Mit den langzeitgeführten Broten geht das. Andere Themen, die häufig angesprochen werden, sind neue Gebäcksorten oder Produktionsfehler, z. B. durch Fadenzieher. Aufgrund des Klimawandels könnte das möglicherweise wieder öfter zum Thema werden. Sauerteig kann dem Fadenziehen entgegenwirken, weil er in den Weizengebäcken Essigsäure bildet und einen bestimmten pH-Wert erzeugt.
b+b: Welche Art Betriebe fragen die Dienstleistungen nach?
Dr. Böcker: Überwiegend sind es Großbäckereien. Wir beraten aber auch kleinere Unternehmen, aber weniger häufig, weil sie weniger häufig nachfragen. Meistens sind es Betriebe mit großen Backstraßen – und dann wirklich weltweit. Aus Deutschland genauso wie aus Griechenland, Brasilien oder Mexiko.
b+b: Apropos weltweit, Sie erwähnten, dass international betrachtet der Weizensauerteig dominiert. Können Sie das erklären?
Dr. Böcker: Es ist die Weizenwelt, die sich gerade intensiv mit dem Thema Sauerteig befasst und seine Wirkung auf Brotqualität und Geschmack entdeckt hat. Auf den internationalen Märkten ist der Mehrwert, den man mit der Auslobung „Sourdough Bread“ erzielen kann, durchaus verstanden worden. Das gilt für Spanien genauso wie für Lateinamerika, UK und viele andere Länder. Der San-Francisco-Sour hat dabei eigentlich ausgedient. Heute werden mildere Weizensauer für langzeitgeführte Brote bevorzugt. Das ist weltweit der große Trend, auch in traditionell roggenlastigen Märkten wie beispielsweise Polen oder Estland.
b+b: Und wie sieht es in Deutschland aus?
Dr. Böcker: Hierzulande sind einige Bäcker immer noch der Ansicht, Sauerteig in Weizenbroten nicht einsetzen zu können, weil der Kleber zerstört werden würde. Was so natürlich nicht stimmt, vielmehr ist es ein diffiziles Spiel aus verschiedenen Vorgängen. Es kommt darauf an, den richtigen Sauerteig in der richtigen Zeit herzustellen. Dann erreicht man Teige mit einer Leistung, die auch im Weizenbereich u. a. einen Schimmelschutz bieten können.
b+b: Wollen Sie Aufklärungsarbeit leisten?
Dr. Böcker: Daran arbeiten wir. Wir wollen erreichen, dass Sauerteig nicht eindimensional betrachtet wird, sondern wir wollen seine vielen Dimensionen hervorheben. Da gibt es die positive Wirkung auf Geschmack, Textur und Frischhaltung, und es gibt am Markt die Wahrnehmung der fermentierten Lebensmittel mit ihrem ernährungsphysiologischen Effekt, was bei den Verbrauchern zunehmend ankommt. Sauerteig kann ganz andere Produktgruppen erzeugen und bringt produktionstechnische Vorteile mit sich. In vielen Ländern wird er beispielsweise in Croissantteigen eingesetzt. Sie schnurren dann nicht zusammen beim Ausrollen. Und in Frankreich gibt es einen Trend, Sauerteig auch in süßen Teigen einzusetzen.
b+b: Seitdem die Möglichkeit besteht, dass sich Bäcker zum Brotsommelier weiterbilden, wird in DACH über Brotaromen gesprochen. Wie ist Ihre Sicht darauf?
Dr. Böcker: Wir gehören zu den Antreibern dieser Geschichte. Nur wer Geschmack definieren kann, kann etwas schmecken. Wir müssen die Lust auf Sauerteig wecken. Und das geht über die Bildersprache zum Aroma. Darum arbeiten wir an einer Aromasprache.
b+b: Sie haben viel Erfahrung in den Auslandsmärkten. Welche Entwicklungen beobachten Sie bei Sauerteigkulturen und Halbfertigerzeugnissen?
Dr. Böcker: Es gibt eine ganze Reihe an Entwicklungen. Fast fertige, pumpbare Ready-to-use-Lebendsauerteige sind ein Segment, das im Ausland stark wächst. Sie werden vor allem dann gerne eingesetzt, wenn Sauerteig nicht täglich verwendet wird und sich eine Anlage nicht lohnt. In England sind sie weit verbreitet, in Skandinavien und vereinzelt in Frankreich. In Deutschland haben wir vorrangig eine Kultur, dass Bäckereien ihre Sauerteige selber herstellen.
b+b: Weltweit haben Unternehmen mit Preiserhöhungen zu kämpfen. Wie zeigt sich das in Ihrem Geschäftsfeld?
Dr. Böcker: Dank der hohen Wertschöpfung unserer Arbeit sind die Preissteigerungen bei Rohstoffen für uns weniger massiv als für Mühlen beispielsweise. Aber auch wir registrieren natürlich Sprünge, insbesondere bei Energie, Personalkosten, Verpackung und Logistik. Wie die gesamte Branche müssen wir, was unsere Preise anbelangt, der Macht der Notwendigkeiten folgen.
b+b: Welche Rolle spielen die Spezialsauer in Ihrem Sortiment und wie entwickeln sich hier die Rohstoffpreise?
Dr. Böcker: Rund 10 % unserer Produktion entfällt allein auf Bio-Dinkel, weitere 10 % auf glutenfreie Rohstoffe wie Reis, Reiskleie, Buchweizen oder Mais. In diesem Feld müssen wir Preissteigerungen um 50 % hinnehmen. Teilweise können wir nur Tagespreise vereinbaren. Andere Rohstoffe sind nicht ansatzweise so stark betroffen. Bei Milchsäure gibt es zwar Preissteigerungen, aber nicht in derart exorbitanter Höhe.
b+b: Zurück zu Entwicklungstrends. Gibt es Ihrer Erfahrung nach Ideen aus dem Ausland, die sich auch in Deutschland erfolgreich umsetzen ließen?
Dr. Böcker: Tatsächlich komme ich immer wieder zurück zum Thema Weizensauerteig und langzeitgeführte Brote. Es besteht ein riesiger Unterschied, ob man das Mehl eines Brotteigs über 6 bis 8 Stunden bearbeitet oder nur über 1,5 Stunden. Ein ganz anderes Produkt entwickelt sich und ein ganz anderes Aroma, das man durch Quellmehle, Guarkernmehl oder Enzyme nicht erreichen kann. Wir plädieren nicht für eine dreistufige Fermentation, oder dreitägig, wie beim Panettone, wir wollen verdeutlichen, dass die Mehlquellung durch nichts anderes zu ersetzen ist als durch die Mehlquellung. Darum geht es bei der Langzeitführung, ob mit Sauerteig oder einem langzeitgeführten Hefeteig. Dann sind auch Hochproteinmehle nicht mehr zwingend notwendig. Man kann mit ganz anderen Mehlen Brote backen. Vielleicht lässt sich der Trend als traditionelles oder historisches Brotbacken bezeichnen, denn es geht im Prinzip „back to the roots“. Übrigens dauert es bei einem Roggenkorn ganze drei Tage, bis die Mehlquellung komplett stattgefunden hat.
b+b: Was ist mit dem Thema „glutenfrei“?
Dr. Böcker: „Glutenfrei“ ist zwar kein neuer Trend, aber ein Segment, in dem wir uns seit Jahren bewegen und aus dem heraus wir Techniken erlernt haben, Nicht-Getreide-
Rohstoffe zu Brot zu verarbeiten – und genau das ist angesichts knapper Weizenressourcen auf einmal eine Weltfrage. Wie kann man mit Vormischungen (Composite flours) aus lokalen Rohstoffen wie Tapioka statt mit Weizenmehl Brot backen? Dieses Thema bewegt zurzeit ausnahmslos alle Backmittler.
„Es besteht ein riesiger Unterschied darin, ob man Das Mehl eines Brotteigs über 6 bis 8 Stunden bearbeitet oder nur über 1,5 Stunden. Ein ganz anderes Produkt entwickelt sich und ein ganz anderes Aroma.“
Dr. Georg Böcker
b+b: Welche Pläne verfolgen Sie bei BÖCKER für die nächste Zukunft?
Dr. Böcker: Die Trends, die wir besprochen haben, wollen wir aktiv vorantreiben, Sauerteig noch bekannter machen. Wir sind Spezialist in der Branche und das wollen wir pflegen. Einerseits zeichnen wir uns durch unsere Rohstoffvielfalt aus – wir führen bis zu 160 Sauerteig-Produkte in der Range –, andererseits durch unseren Fokus auf F&E. Darum haben wir uns schon immer auch mit außergewöhnlichen Zutaten auseinandergesetzt. Zurzeit sind es die Leguminosen, mit denen wir diverse Produkte anbieten können. Idealerweise wollen wir Trends nicht nur folgen, sondern sie setzen.
Und es tun sich neue spannende Märkte für uns auf, wie die veganen Lebensmittel. Ein Segment, in dem es nicht nur an Rohstoffen mangelt, sondern auch an Geschmack. Genau den können wir durch Fermentation erarbeiten. Dabei geht es nicht allein um Brot, sondern genauso um Fleischersatz oder Getränke. Wir wollen uns als Geschmacksentwickler positionieren, und zwar einem Geschmack, der auf natürlichen Rohstoffen basiert.
Die Fermentation macht viele Rohstoffe erst nutzbar, vor allem solche, die wegen ihrer Bitterstoffe abgelehnt werden, wie Buchweizen, Lupinen oder Leinsaat. Aromatisierung ist eine Sache, die Backbarkeit von Zutaten eine weitere der vielen Dimensionen des Sauerteigs.
b+b: Herr Dr. Böcker, vielen Dank für unser aufschlussreiches Gespräch.