Der jüngste Food Report der österreichischen Markt- und Zukunftsforscherin Hanni Rützler beschäftigt sich vor allem mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Food-Märkte und die Gastronomie.
Der Food Report 2022 von Hanni Rützler knüpft ziemlich nahtlos an frühere Werke an. Das Konsumentenverhalten wird demnach zunehmend von wachsendem Gesundheitsbewusstsein, Vernetzung und Liefergeschäft sowie durch die wachsende Bedeutung pflanzlicher Ernährung auch in der Gastronomie beeinflusst. Ergänzend dazu kommen Wünsche nach mehr Nachhaltigkeit, weniger Abfall und generell dem höheren Stellenwert ethischer Prinzipien wie Wertschätzung für die Rohstoffe oder Tiergesundheit. Rützler paart die Abhandlungen über die verschiedenen Trends mit internationalen Fallbeispielen. Vor allem diese stellen eine Fülle interessanter Anregungen dar.
Vermutlich aus Zeitgründen wurden die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Einkommensverteilung, etwa durch den Wegfall vieler Jobs ohne soziale Absicherung bzw. die Einkommensminderungen durch Kurzarbeit, nicht in die Studie integriert. Auch die seit zwei Jahren deutlich steigende Inflation blieb ebenso außen vor wie der Krieg in der Ukraine und seine Folgen.
Werte und Haltung werden wichtiger
Als eine der wichtigsten Folgen der Corona-Pandemie nennt Rützler die Verschiebung von Werten, die auch die Wertschöpfung verändert, weil möglich wird, was vorher undenkbar war. So werde die Zukunft für Food-Anbieter jeder Art zu einer Herausforderung, die sie zwingen könnte, gewohnte Wege zu verlassen, und ihnen gleichzeitig die Chance eröffne, neue Wege zu gehen. Dabei heiße es, auch die Widerstandsfähigkeit des eigenen Geschäftsmodells inklusive der notwendigen Lieferketten zu stärken.
Hanni Rützler
Lockdown und Quarantäne haben viele Menschen dazu gezwungen, sich häufiger zu Hause zu verköstigen, und damit ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt, was sie essen, woher es kommt, wie es produziert wird und wie transparent sie darüber an Informationen gelangen. Die Digitalisierung hat ihnen geholfen, an Informationen zu kommen. Die traditionelle Lebensmittel-
industrie mit ihrer Orientierung an Effizienz und immer niedrigeren Kosten stehe inzwischen in Konkurrenz zu engagierten Entrepreneuren, denen man ihre Orientierung an Nachhaltigkeit und ihr soziales Engagement abnimmt. Eine Umfrage der Gfk in deutschsprachigen Ländern zeigt, dass die Bedeutung von Regionalität als wichtig für die Kaufentscheidung von 2013 auf 2020 von 60,5 auf 68,7 %, die des fairen Handels von 37,5 auf 47 % und die der Nachhaltigkeit der Produkte von 34,4 auf 41,1 % gestiegen ist. Die Bedeutung des Preises und des Convenience-Charakters hingegen geraten unter Druck. Preise werden im Kontext mit Dienstleistung und Konsum variabel bewertet und Convenience soll nicht mehr nur Arbeit sparen, sondern vor allem den eigenen Lebensstil unterstützen. Erfahrungen, die Konsumenten und Konsumentinnen beispielsweise mit der Servicefreundlichkeit von Unternehmen machen, schlagen sich künftig schneller in Akzeptanz nieder, ebenso wie Offenheit in der Frage der Prozesse und Ziele.
Gesundheit breiter gefasst
Gesundheit als wichtiges Argument bei der Nahrungsmittelbeschaffung und -aufnahme hat seit Jahren Konjunktur. Corona hat dieses Argument erweitert und verstärkt. Nicht nur das Lebensmittel selber soll die Gesundheit fördern, es wird zunehmend ganzheitlich definiert. Wohlbefinden, Fitness, aber auch eine intakte Umwelt und ein akzeptables Sozialverhalten gehören dazu. Ernährung, Kochen und gemeinsames Essen gehören enger zusammen denn je zuvor. Wie detailliert das Feld Gesundheit vom jeweils Einzelnen definiert wird, ist vielfältig und reicht vom gesundheitsorientierten Hedonisten über Leute, die Wert auf spirituelle Aspekte legen, bis hin zum altbekannten „free from“.
Weniger Abfall vom Acker bis auf den Teller
Corona und Kimakrise gehen bei der Forderung nach weniger Rohstoffverschwendung und weniger Abfall eine fruchtbare Kooperation ein. Untersuchungen in verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass die Konsumenten und Konsumentinnen weniger Lebensmittel wegwerfen und dass ihre Kompetenz im Management ihrer Lebensmittel – Einkaufen, Lagern, Kochen, Resteverwertung – deutlich zugenommen hat. Der Wandel der Arbeitswelt hin zu Homeoffice und weniger Spontaneinkäufe haben zudem dafür gesorgt, dass weniger weggeworfen wird, trotz insgesamt verstärktem Einkauf, weil die Restaurants geschlossen waren. Verbraucher halten sich nicht mehr sklavisch an das Mindesthaltbarkeitsdatum und auch der Einkauf unver-
packter Ware ist ein wachsender Trend.
Der zweite Trend zur Vermeidung von Abfällen heißt Upcycling, beginnt bei der Share-Economy, also dem Weitergeben nicht genutzter Dinge, und endet noch lange nicht bei neuen Produkten, die aus Abfällen entstehen können, seien es T-Shirts aus Milch oder Strom aus Bioabfällen.
Neue Lebensmittel
Für manche Konsumenten ist das Kochen nach Erntezeitplan bereits eine geistige Herausforderung. Andere sind hingegen auf der Suche nach kulinarischen Herausforderungen durch alte Gemüsesorten oder in heimischen Regionen angepflanzte Exoten wie Ingwer, Feigen, Süßkartoffeln oder Gojibeeren. Bislang fast verschwundene Tierarten werden wieder gezüchtet und aufgezogen. Selbst Mozzarella aus österreichischer Produktion ist auf dem Markt angekommen. Nicht wenige Konsumenten pflanzen auf Balkonen und in Gärten Exoten wie Meerkohl, Shiso oder Malabar-Spinat
Allesesser mit Ethik
Sich auf Dauer vegan oder vegetarisch zu ernähren dürfte vermutlich nur einer Minderheit gefallen. Wichtiger werden dagegen jene Allesesser, die Verantwortung für den Planeten in ihre Entscheidungen einbeziehen. Marktforscher nennen sie „Real Omnivores“ und bezeichnen sie als technik-affin und neuen Trends und Entwicklungen gegenüber sehr aufgeschlossen.
Der Trend, den eigenen Fleischkonsum zu reduzieren, findet sich vor allem bei jungen Menschen, die die Klimarelevanz des Konsums berücksichtigen, und hier besonders bei den Frauen. Aber es geht nicht nur um weniger Fleisch, sondern auch darum, das ganze Tier zu verwerten. Zunehmend mehr Akzeptanz finden deshalb auch Innereien.
Neben der eigenen Gesundheit geht es den neuen Allesessern darum, die ökologische Belastung der Erde zu reduzieren und neue Nahrungsquellen zu erproben wie In-vitro-Fleisch und Fisch, Nahrungsmittel aus Mikroorganismen, pflanzliche Fleischalternativen, Insekten und Schnecken. Dabei geht es nicht nur um Alternativen zum Fleisch, sondern auch um den Wandel der Fleischproduktion, etwa durch Futtermittel aus dem Labor bzw. dem Gärtank oder durch Fleisch von Tieren, die sich auf Wiesen selbstständig ernähren und so umweltschonender aufwachsen, aber länger dafür brauchen.
Hanni Rützlers FOOD REPORT 2022, Herausgeber: Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt, publiziert in Kooperation mit der LebensmittelZeitung, foodservice und gv-praxis
Gastrotrends
Grundsätzlich finden die Ernährungstrends der Verbraucher ihren Niederschlag auch in der Gastronomie und so gehen immer mehr Spitzenköche in ihren Küchen neue Wege, bei denen sie den Fleischanteil reduzieren oder ganz und gar eliminieren. Manche von ihnen haben die Corona-Pandemie nicht nur genutzt, ihre Lokale und ihr Angebotsrepertoire zu modernisieren, sondern auch dazu, neue Angebotsformen wie Take-away oder Menülieferungen einzuführen. Rützler sieht in ihrem Report vor allem für diese
Restaurantbetreiber echte Zukunftschancen; eine Rückkehr zu Vor-Corona-Zeiten, so prophezeit sie, werde es nicht geben.
Wichtiger denn je werde die geistige Beweglichkeit der Restaurantbetreiber sein, die sich über Food-Trends weltweit informieren und diese auf die Adaption in der heimischen Küche prüfen, aber auch die Bereitschaft, Transparenz zu praktizieren. Rützler: „Gastronomen, die sich gegen Herkunftskennzeichnung wehren, missachten letztlich ihre Gäste.“ Veggie-Menüs, davon ist sie überzeugt, werden zum Standard in der Gastronomie. Vor allem den Gastroteil hat Rützler mit vielen interessanten Beispielen angereichert, sodass allein diese Lektüre eine Inspiration ist.
Digitalisierung
Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so üppige Fülle an Beispielen liefert Rützler im Kapitel über E-Food. Die Corona-Folgen hätten der Digitalisierung der gesamten Food-Branche und speziell der Gastronomie einen unerwarteten Schub gegeben. Die Auswirkungen, so Rützler, gehen aber weit über Handel und Gastronomie hinaus, verändern die Landwirtschaft ebenso wie das Essverhalten und erzeugen neue soziokulturelle Strukturen. Die Möglichkeit der Vernetzung und Information biete Wissen und Wahlmöglichkeiten für Rohstoffanbieter wie für Verbraucher, die der Herrschaft des klassischen Handels ebenso Paroli bieten wie dem puren Online-Handel. Direktvermarktung inklusive Kooperationen mehrerer kleiner Hersteller und die sogenannten „Grünen Kisten“ als Bezugsvariante für Frischwaren erlebten während der Corona-Pandemie einen massiven Aufschwung. Vermehrte Online-Auftritte auch von kleinen Anbietern erweitern die Auswahl der Verbraucher. Dieses „Empowering“, so Rützler, mag mit zunehmender Normalisierung zwar wieder an Bedeutung verlieren, werde aber ganz sicher nicht wieder verschwinden und sowohl im Handel wie in der Gastronomie einen Strukturwandel in Gang setzen. Dabei gehe es allerdings nicht nur um den Einsatz von Technik, sondern um einen „kulturellen Wandel“ in den Beziehungen. Neuerungen, so ihre Prognose, werden in Zukunft häufig von den Konsumenten und ihren in digitalen Netzwerken geäußerten Bedürfnissen ausgehen.