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b+b-2018-03-Das Damoklesschwert der Demografie

Die offizielle Prognose der demografischen Entwicklung in Deutschland zeichnet das Bild einer älter werdenden und zugleich schrumpfenden Bevölkerung. Dadurch wird die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften in Zukunft eher schwieriger.

Ältere Arbeitnehmer werden aufgrund der steigenden Lebenserwartung bis zum Renteneintritt möglicherweise länger arbeiten müssen als bisher. Ältere Arbeitnehmer weisen jedoch ein höheres Gesundheitsrisiko auf. In einer alternden, schrumpfenden Gesellschaft ist das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) in einem erweiterten Kontext zu betrachten. Die Maßnahmen betreffen die Lehrlingsausbildung, Arbeitsplatzgestaltung und -ergonomie, die Arbeitszeitgestaltung, Weiterbildung zur Kompetenzerhaltung und Gesundheitsförderung, soziale Anerkennung, Frauenförderung und Work-Life-Balance. Somit handelt es sich um einen bunten Strauß von Themen, die häufig noch als Themeninseln in den Betrieben behandelt und abgearbeitet werden und die nunmehr im Hinblick auf die demografische Strukturverschiebung neu ausgerichtet, aufeinander abgestimmt und fokussiert werden müssen.

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Bevölkerungsentwicklung bis 2060

Ein Blick in die Zukunft

Die Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts bis 2060 auf der Basis der Daten zum 31.12.2013 weist auf eine beunruhigende Entwicklung hin. Die wesentlichen Daten sind im Schaubild „Bevölkerungsentwicklung bis 2016“ dargestellt.

Diese Prognose basiert auf der Annahme einer Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung (langfristiger Wanderungssaldo +200.000 Personen ab 2021) und einer Geburtenrate von 1,4 Kindern/Frau. Die Gesamtbevölkerung steigt noch bis 2020 auf 82,0 Mio. Personen und fällt dann kontinuierlich auf 73,1 Mio. Personen bis 2060 ab. Die Zahl der in der Ausbildung und in Arbeit befindlichen Personen fällt noch stärker ab. Betrug also der Ausbildungs- und Erwerbsgruppe 2013 noch 60,9 % der Gesamtbevölkerung, sinkt nun dieses Verhältnis auf 51,8 % bis 2060. Gleichzeitig steigt im gleichen Zeitraum die Zahl der über 65-Jährigen (aus Platzgründen in der Tabelle nicht dargestellt) von 16,9 Mio. (20,9 % der Gesamtbevölkerung) auf 23,2 Mio. (31,7 % der Gesamtbevölkerung) und es kommen weniger junge Menschen nach (2013 noch 14,7 Mio. und 2060 nur noch 12,0 Mio. Personen). Diese Entwicklung wird im 20-Jahres-Vergleich gegenüber dem Basisjahr 2013 in den Abbildungen unten dargestellt.
Wenn wir nun das Jahr 2020 betrachten, erkennen wir deutlich den Überhang von Erwerbstätigen über 55 Jahren und gleichzeitig die Nachwuchslücke von 15- bis 30-Jährigen. Dieses Problem anzugehen ist die unmittelbare Herausforderung der kommenden Jahre. Nach der Bevölkerungsvorausberechnung wird die jetzt schon prekäre Lage in den folgenden Dekaden aber noch viel dramatischer. Diese ungünstige Situation wird durch die Landflucht weiter verschärft: Immer mehr Arbeitssuchende zieht es in die Städte, sodass sich eine Überalterung der Landbevölkerung mehr und mehr bemerkbar wird. Die ohnehin schwierige Lage von Bäckereibetrieben im ländlichen Raum wird dadurch noch drückender.

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Bevölkerungsentwicklung bis 2060:
Die Entwicklung wird im 20-Jahres-Vergleich gegenüber dem Basisjahr 2013 dargestellt.

Heutige Defizite in Unternehmen

Bevor wir zu Ideen und Vorschlägen kommen, was getan werden könnte, ist es hilfreich, zunächst das „Gelände“ zu vermessen, will heißen festzustellen, welche Schwächen grundsätzlicher Natur in Unternehmen bestehen, die Lösungen entgegenstehen und deshalb angegangen und nach Möglichkeit behoben werden müssten. Als erste zu nennen ist ein falsches Menschenbild mit entsprechenden Werte- und Führungsdefiziten seitens der Vorgesetzten. Häufig werden Mitarbeiter nämlich als autonom handelnde Wesen betrachtet, aber deren Verhalten wird als eigennützlich motiviert gedeutet. Mitarbeiter behandelt man demnach auch als eigennützliche Wesen: durch Schulungen, reduzierte Ermessensspielräume sowie durch Prüfung, Kontrolle und sogar durch Strafen. Eine hilfreiche Alternative wäre, sie als soziale Wesen zu betrachten, deren Verhalten durch Eigennutz, aber auch durch Wertvorstellungen, Ideale und Gruppendruck geprägt ist. Diese zweite Sichtweise schafft erst die Basis für die Vermeidung eines Wissensverlusts, der vermehrt auftreten kann, wenn die Babyboomer-Generation in den Ruhestand geht. Sie als stets zu kontrollierende
Personen zu behandeln, die nur innerhalb eng festgelegter Parameter selbst zu
denken haben, vergibt die Chance, implizites Wissen – Wissen und Know-how, das in ihren Köpfen steckt und nicht in Worten festgehalten werden kann – an die Nachfolger weiterzugeben. Unternehmen, die erkennen, dass 55- bis 60-Jährige anders denken als 35-Jährige und bei entsprechender Behandlung Ideale hinsichtlich der Förderung ihrer jüngeren Kollegen entwickeln können, haben zweifelsohne entscheidende Wettbewerbsvorteile. Als geschätzte Mentoren wären die erfahrenen älteren Mitarbeiter bereit, ihr Wissen an die jungen Kollegen weiterzugeben. Als „teure Alte“ abgekanzelt verabschieden sie sich geistig in den Ruhestand und mit ihrem Ausscheiden ist das Wissen weg, das maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens beigetragen hat.

Wenn man heute an Maßnahmen für die älteren Mitarbeiter denkt, so hat man meistens Kostenszenarien vor Augen und die Lösung geht meistens in Richtung Altersteilzeit, womit das implizite Wissen noch eher verloren geht. Wenn Maßnahmen zur Gesundheitsförderung doch ergriffen werden, so dominieren „Krankenstandsanalysen“ und „Mitarbeiterbefragungen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz“ und zumeist nicht hinreichend durchdachte Insellösungen, die man halt bei anderen Firmen irgendwo gesehen hat. Was fehlt, sind wohlkoordinierte aktive Maßnahmen, die auf die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter und die spezifischen Notwendigkeiten des eigenen Unternehmens zugeschnitten sind.

Und wenn es um die jungen Mitarbeiter geht, tut man zu wenig für sie und vertut damit die Chance, eine Reputation als attraktiver Arbeitgeber aufzubauen. Auch der Anteil ausbildender Betriebe ist immer noch viel zu gering. Doch die besten späteren Fachkräfte sind diejenigen, die man selbst geformt und herangezogen hat.

Was jeder Unternehmer tun könnte

Im Folgenden wollen wir ein paar generelle Lösungsansätze skizzieren, wohl wissend, dass man nur die generelle Richtung aufzeigen kann, denn jedes Unternehmen muss diese Vorschläge unter Berücksichtigung der eigenen Situation mit Leben erfüllen.
+ Werte und Führungsdefizite ernsthaft angehen. In dem schärfer werdenden Wettbewerb um die besten Fachkräfte geht es darum, als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden. Dazu müssen mehrere Faktoren stimmen, denn mit Geld allein ist es nicht getan: Der Arbeitgeber und der Arbeitsplatz müssen familienfreundlich und gesundheitsförderlich sein und als Mitarbeiter will man mit seinen Ideen ernst genommen werden und man will sich damit einbringen. Das sind elementare Voraussetzungen für Mitarbeiterbindung und -engagement. Dagegen suchen gute Mitarbeiter, die das Gefühl haben, als Lohn- bzw. Gehaltsempfänger behandelt zu werden, auf kurz oder lang das Weite.
+ Die Einstellung zu Frauenbeschäftigung muss sich radikal ändern. Gerade in Bäckereibetrieben mit vielen Frauen im Verkauf ist eine Neubewertung notwendig. Es geht nicht um ein bisschen Work-Life-Balance hier und bequemere Arbeitszeitmodelle dort. Frauen wollen und können genauso leisten wie ihre männlichen Kollegen. Viele Großfirmen haben sogar erkannt, dass die Initiative „Frauen in die Führung“ zu besserer Kundenbindung und mehr Umsatz führt.
+ Altersgerechte Arbeitsplätze durch die Optimierung von Schichtmodellen schaffen und insgesamt für eine altersgerechte Arbeitsorganisation sorgen. Wie bereits erwähnt, könnte man durch Mentoringmodelle versuchen, die „Alten“ mit ihren Idealen zu mobilisieren und dadurch das implizite Wissen im Unternehmen zu konservieren.
+ Gesundheit und Arbeitsfähigkeit auf der Ebene des individuellen Mitarbeiters analysieren und überwachen. Dazu gehört ein Case-Management-System für Fälle der Arbeitsunfähigkeit (AU). Ein Merkmal solcher Systeme ist, dass Mitarbeiter nach einer AU-Abwesenheit mit Rückkehrgesprächen wieder empfangen werden. Das hat nichts mit „small talk“ zu tun und noch viel weniger mit Schnüffelei. Es geht darum, dem Mitarbeiter deutlich zu erkennen zu geben, dass man sich freut, dass er wieder dabei ist, denn es gibt kaum etwas Schlimmeres für das Selbstwertgefühl eines Rückkehrers als das Gefühl, man hätte ihn gar nicht vermisst – so als ob es keine Rolle spielte, ob er wieder im Betrieb oder noch zu Hause wäre. Zum Case-Management gehört auch die Erfassung und Analyse des Krankenstands nach Altersgruppen und die Prüfung des Zusammenhangs zwischen Alter und AU-Tagen.
+ Durch Mitarbeiterbefragung die Arbeitsbewältigung und Arbeitsfähigkeit feststellen. Dazu gibt es den sog. Work Ability Index (WAI) als Fragebogen mit zehn Fragen. Der WAI wird im Deutschen auch Arbeitsbewältigungsindex (ABI) genannt. Ziel der Anwendung in Betrieben ist die Förderung bzw. Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten. Dadurch kann man auch den Zusammenhang zwischen Alter und Belastungen bzw. Ressourcen ermitteln.

Fazit

Diese Vorschläge und Ideen zeigen, dass BGM im weiteren Sinn sehr viel mehr erfasst als die reine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Letztere hängt von sehr vielen Faktoren ab und, wie wir gesehen haben, von der Unternehmenskultur und von den Werten, die dort von den Führungskräften gelebt werden. Sie zeigen auch, dass eine sehr strukturierte Vorgehensweise, ein fein abgestimmter Maßnahmenmix und die Verwendung belastbarer Messdaten und Kennzahlen für die Steuerung und Kontrolle notwendige Voraussetzungen sind. Anders als etwa in der Finanzbuchhaltung geht es in erster Linie um nicht finanzielle Indikatoren (NFI) statt um monetäre Kennzahlen. Auch das bedeutet für viele Betriebe ein Umdenken, aber was nicht gemessen wird, bleibt oft auf der Strecke.

 

Autor

Prof. Dr. James Bruton lehrt Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Flensburg sowie an der NORDAKADEMIE Graduate School in Hamburg. Er ist Autor des Buches „Corporate Social Responsibility und wirtschaftliches Handeln. Konzepte, Maßnahmen, Kommunikation“ und forscht über psychologische Aspekte der Unternehmensführung in diesem Bereich. Er ist außerdem zertifizierter INQA-Berater.

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